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Der Rückzug russischer Truppen aus Cherson lässt das Vertrauen nationalistischer Kriegsbefürworter an Putin erodieren - Chef-Ideologe Alexander Dugin übt nun offen Kritik.
Moskau - Die Elite rund um Wladimir Putin trägt teils markige Spitznamen. Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow wird „Putins Bluthund“ genannt und Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin „Putins Koch“. Alexander Dugin erhielt den schmeichelhafteren Titel „Putins Gehirn“. Dugin gilt als erzkonservativ und verficht unter anderem die Idee einer „Eurasischen Union“, ein Bund mehrerer Länder „vonDublinbisWladiwostok“. Der Philosoph und Politologe stieg zu einem der Chef-Ideologen des Kreml auf und befürwortet den Ukraine-Krieg. Doch nach dem Rückzug russischer Truppen aus Cherson übte er offen Kritik an der Führung in Moskau.
Cherson-Rückzug: Kritik von „Putins Gehirn“ könnte auf Wandel hindeuten
Putin wusste wohl, was bei einem Rückzug aus Cherson innenpolitisch auf dem Spiel stehen würde. Noch im September hatte er seinen Generälen - entgegen anderslautender militärischer Ratschläge - den Rückzug aus der Region verboten. Doch nun war Cherson für die russischen Truppen offenbar unhaltbar. Der Kremlchef hatte die Nationalisten Prigoschin und Kadyrow zuvor auf Linie gebracht, so scheint es. Während sonst bereits Kreml-Kritik von den beiden Hardlinern zu hören war, sprachen sie beim Rückzug aus Cherson von einer „schwierigen, aber notwendigen Entscheidung“. Doch harsche Kritik kam am Freitag stattdessen von Alexander Dugin. Das könnte auf einen Wandel unter den russischen nationalistischen Ideologen hindeuten.
Dugin-Kritik deutet auf ideologischen Bruch zwischen Kriegsbefürwortern und Putin hin
Der russische Politologe Dugin ist auch persönlich vom Ukraine-Krieg betroffen. Seine Tochter Darja Dugina, eine glühende Verfechterin der russischen Invasion, kam im August bei einem Autobombenanschlag ums Leben. „Cherson hat sich ergeben. Wenn dir das egal ist, dann bist du kein Russe [...]“, hieß es nach Bekanntwerden des Rückzugs vonseiten des Nationalisten. Der Philosoph und Politologe forderte in einem am Freitag erschienenen Onlinebeitrag auf dem Portal Tsargrad, der Krieg müsse „ein Krieg des Volkes im vollen Sinne des Wortes werden.“
Offiziell ist in Russland immer noch von einer „militärischen Spezialoperation“ die Rede, auf „Falschinformationen“ stehen bis zu 15 Jahre Haft. Die US-Kriegsexperten der Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) gehen in ihrer aktuellen Analyse vom Samstag davon aus, dass der Rückzug Russlands aus der Stadt Cherson zu einem ideologischen Bruch zwischen den Kriegsbefürwortern und dem russischen Präsidenten führt. Der Rückzug „untergräbt das Vertrauen in Putins Engagement und seine Fähigkeit, seine Kriegsversprechen zu erfüllen“, so die ISW-Analyse.
Alexander Dugin lässt in langer Liste an Kritik auch Anspielung auf „getöteten König“ fallen
Der russische Kriegsbefürworter Dugin richtete eine lange Liste an Kritikpunkten an Wladimir Putin. Unter anderem warf er dem Kremlchef vor, „die russische Ideologie nicht aufrechterhalten zu haben“. Dabei ginge es um Russlands Verantwortung für die Verteidigung angeblich „russischer Städte“ wie Cherson, Belgorod, Kursk, Donezk und Simferopol, so die Analyse der US-Kriegsexperten des ISW.
Der Philosoph merkte außerdem an, „dass ein Autokrat die Verantwortung habe, seine Nation ganz allein zu retten oder das Schicksal des ‚Königs des Regens‘ zu erleiden, eine Anspielung auf Sir James Frazers „The Golden Bough“, in dem ein König getötet wurde, weil er nicht in der Lage war, in einer Dürre Regen zu bringen“, hieß es in der ISW-Analyse. Gleichzeitig nahm der Politologe auch Armeegeneral Sergej Surowikin aus der Schusslinie und betonte, dass dieser nicht für die politische Entscheidung eines Rückzugs aus Cherson verantwortlich sei. Etwas schwammig formulierte Dugin außerdem, dass „die Grenze erreicht sei.“
Kreml-Ideologe Dugin erwähnt in seiner Putin-Kritik auch den Einsatz von Atomwaffen
Dugin ging mit seiner öffentlichen Kritik noch einen Schritt weiter. Er warf der russischen Regierung vor, eine „falsche“ Ideologie zu vertreten, weil sie Angst habe, sich zur „russischen Idee“ zu bekennen, resümierten die ISW-Kriegsexperten. Dugins Einlassungen hätten sich demnach auch auf den Einsatz taktischer Atomwaffen bezogen, den er vage als „das Ende“ bezeichnete. Der Kreml-Ideologe stellte zudem fest, dass die Änderungen an der Militärkampagne bislang keine Auswirkungen auf den Verlauf des Krieges hatten.Russland müsse sich aus seiner Sicht „zur russischen Idee“ bekennen, anstatt den „dummen“ Einsatz von Atomwaffen zu verfolgen. Die letzte Ressource ist die Ideologie, so Dugin weiter.
Unterm Strich werteten die ISW-Kriegsexperten diese offene Kritik als möglichen Wandel in der Riege der nationalistischen Ideologen. Es gebe immer größere Zweifel der russischen Nationalisten an Putins Engagement für die „russische Ideologie“. Für Putin werde es immer schwerer, Teile der hochideologischen Kriegsbefürworter zu beschwichtigen, weil das russische Militär nicht in der Lage sei, seine maximalistischen Ziele zu erreichen - die ukrainische Regierung zu stürzen und die gesamte Ukraine zu erobern.